„Ich bin ein überzeugter und konsequenter Kritiker des Parteien-Parlamentarismus und Anhänger eines Systems, bei dem wahre Volksvertreter unabhängig von ihrer Parteizugehörigkeit gewählt werden.“
Alexander Issajewitsch Solschenizyn, 2007

Montag, 23. Juli 2018

Schulgeschichten

Am Montag kam der kleine Harry in die Klasse und erzählte überall, dass er gesehen hat, wie der Direktor bei der letzten Gemeinderatsfeier sturzbesoffen aus dem Saal der „Alten Post“ getorkelt kam, mühsam gehalten vom Vizebürgermeister und der Gemeindesekretärin, die er alle beide begrabbelte und abschmuste. Er, Harry, finde das widerlich und den Alten doof und der solle am Besten gehen, ehe er die ganze Schule lächerlich macht.

Das Lehrerkollegium war bestürzt über diese unglaubliche Hetze des kleinen Harry und belehrte die Kinder sofort, dass der Harry ein Schmuddelkind sei, ein mieser Lügner obendrein, und ein Hetzer sowieso, denn der hochehrenwerte Herr Direktor habe eigentlich ein schweres Rückenleiden, und er wolle sich dadurch nicht der schweren Pflicht der Schulführung und der Gemeinderatssitzungen entschlagen, und außerdem würde er niemals trinken und alle bisherigen Gerüchte über seine Eskapaden nach Besuchen der „Alten Post“ wären auch Lüge und Hetze und überhaupt müsse man dankbar sein, einen so aufopferungsvollen hochehrwürdigen Herren Direktor zu haben.

Die Schulklassen sind nach den ersten Belehrungen durch die Lehrer ziemlich angefressen auf den kleinen Harry, denn auch wenn sie selbst ihm innerlich Recht geben und die peinlichen Auftritte des alten Direktors auch doof finden, wollen sie es sich doch mit den Lehrern nicht verscherzen. Immerhin hat sogar der alte klapprige Hausmeister, der schon etwas schrullig wird und es schade findet, dass nicht alle Mädchen an der Schule ein Kopftuch tragen, gemeint, dass der Harry nicht so ungebührlich reden darf, das stünde ihm nicht zu.

Der verstockte Bengel, inzwischen von allen Seiten ausgebuht, legt aber trotzig nach: „Ich weiß was ich gesehen habe und der Alte hat sich peinlich aufgeführt. Der ist und bleibt doof!“
Inzwischen hat der kleine Hannes, der immer brav den Lehrern die Tür aufhält und dem Hausmeister schonmal eine Schachtel Bio-Pralinen mitgebracht hat, dem Herrn Direktor auch Pralinen geschickt und dazu einen bewegenden Brief geschrieben:
„Lieber Herr Direktor!
Ich finde des urpeinlich wie der Harry doof über dich redet und will mich dafür entschuldigen, denn der Harry ist ein Arsch und den mag ich nicht, aber ich habe dich ganz doll gern und die anderen auch, die finden dich ganz toll! Die Schnapspralinen hat meine Mama besorgt, du kennst sie, sie kellnert in der „Post“ und sie sagt, die magst du ganz besonders, auch ohne das Schoko drumrum, aber ich weiß nicht, was sie damit meint. Wir verehren dich, oh Großer Direktor! Ich würde alles tun, um mich zu entschuldigen für das, was der Harry gesagt hat. Darf ich ab morgen die Pausenaufsicht machen? Darfichdarfichdarfich??
Ganz liebe Grüße Dein Hannes“

Schon am nächsten Morgen fanden sich Kopien dieses Briefes an jedem schwarzen Brett in der Schule. Irgendwer, wahrscheinlich der Hannes selbst, hat es dem Harry auf die Bank gelegt. Der hat es mit der Bemerkung: „Das kann man nicht mal mehr zum Hinternputzen verwenden, weil es schon in dem vom Alten steckt“, weggeworfen, was ihm den siebenunddreißigsten Tadel von Frau Angela, der Lehrerin für Ethik und Religion, eingebracht hat. Sie hat den Brief vom Hannes als Lehrbeispiel für Anstand und Respekt in den Unterricht aufgenommen.

Der Vollkommene Christian aus der letzten Reihe, der unabhängig vom Thema des Tages in jeder Unterrichtsstunde einen Aufsatz über seine eigene Vollkommenheit und eine Brandrede gegen die Dummheit der anderen verfasst, schreibt derweil an einer vervollkommneten Version seines Pamphletes „Warum ich der Beste von allen bin und niemandem das Hemd so gut sitzt wie mir“. Ihm genügt es, dass sein Kumpel Hannes einen Streberbrief verfasst hat, denn während er sich nur um seine eigene Erhöhung kümmert, hat er seine kleine Truppe Bewunderer, zu der auch der kleine Hannes gehört, nur zu dem Zweck, die anderen kleiner aussehen zu lassen.
Der kleine Peter ist damit beschäftigt, die kleine Martha aus seiner Bank zu schupfen, weil sie glaubt, wichtiger zu sein als er. Der hyperaktive Matthias hat innerlich gekündigt und nimmt nicht mehr kommentierend am Unterricht teil, was von den meisten mit Erleichterung quittiert wird. Die Freunde vom Vollkommenen Christian schreien derweil herum, wo denn der Sebastian ist, der wäre doch ein Freund vom Harry, und Klassensprecher obendrein, der müsse doch unbedingt was sagen. Es könne ja nicht sein, dass er dazu schweigt, dass der Harry den Direx doof findet, nur weil es ihm eigentlich egal sein kann und er eh was anderes zu tun hat, weil er gerade in der Lehrerkonferenz als Schülervertreter sitzt.

Die Kinderredaktion der linken Schülerzeitung „die Standarte“ tagt, weil sie nicht weiß, ob sie die nächste Meldung bringen soll: Man habe den Hannes gesehen, wie er in der Ecke gesessen und geweint hat, weil der Direx nicht einmal Danke für die Pralinen gesagt hat. Dabei hatte er so gehofft, von ihm zur Pausenaufsicht bestellt zu werden. Der Hace, dem Harry sein kleiner Bruder, soll auch gehänselt haben. Vielleicht bringen sie darüber etwas.
Das Gerücht, dass die Gemeindesekretärin sauer ist, weil der Direktor sofort die gesamten Pralinen allein aufgefressen haben soll, konnte nicht bestätigt werden. Kommt wahrscheinlich aus dem Dunstkreis der Schmuddelkinder.
Der Direktor stand für kein Interview zur Verfügung. „Zur Schülerzeitung? Nein, da bekomme ich nur Wasser!“ soll er gesagt haben. Aber das zu verbreiten haben die Lehrer rechtzeitig unter Strafe gestellt.

Keine Kommentare: