„Ich bin ein überzeugter und konsequenter Kritiker des Parteien-Parlamentarismus und Anhänger eines Systems, bei dem wahre Volksvertreter unabhängig von ihrer Parteizugehörigkeit gewählt werden.“
Alexander Issajewitsch Solschenizyn, 2007

Montag, 9. Juli 2018

Progressive

Ein Sommerwochenende mal wieder für den selten gewordenen Luxus verwendend, ein Buch zu lesen, habe ich mir leichte Kost aus meiner Jugendzeit gegriffen, ein Dank meiner österreichisch-deutschen Familienbande damals zu mir gespültes Science-Fiction-Buch der Achtziger aus der DDR. Die Ost-SF war weniger technik- und raumgeballerbelastet und eine Ausdrucksform der Systembewertung. Man konnte kritisieren, ohne Namen zu nennen, und wurde trotzdem verstanden. Meister dessen waren die russischen Gebrüder Strugazki, deren Maxim-Kammerer-Trilogie ich ebenso verschlungen habe wie „Picknick am Wegesrand“ oder „Der ferne Regenbogen“ oder der Pole Stanislaw Lem mit „Die Stimme des Herrn“ oder „Solaris“, das sich von dem Hollywood-Langweiler mit George Clooney in etwa so unterscheidet wie der weltenbedeckende intelligente Ozean dieser Geschichte von einer trüben Lache. Dass mit „Menschen wie Götter“ ein gewisser Sergej Snegow einen Dreiteiler abgeliefert hat, dessen inhaltliche Dichte für das Doppelte gereicht hätte und der bei mir weit vor Muppet-Märchen wie „Star Wars“ rangiert, sei am Rande erwähnt. Russische Literatur ist nach meinem Empfinden grob gestanzt und schwer verdaulich, weil, das wissen wir nicht erst seit Tolstoj oder Dostojewski, sie im Gegensatz zur alles genüsslich in die Breite walzenden westlichen Literatur versucht, alles in eine geradezu unergründliche Tiefe zu hämmern. Und dabei dürfen schon mal schwere Werkzeuge eingesetzt werden.

Jedenfalls habe ich ein ostdeutsches Jugendbuch wieder mal in die Hände bekommen, das kaum einer kennt und dessen Autor es leider nicht schafft, seine eigene Phantasie mit dem letzten Schliff auf Papier zu bringen, sonst hätte das ein Reißer werden können. Es platzt nämlich vor Ideen, manchmal wird auf einer Seite in Nebensätzen mehr erwähnt als in manchem anderen Buch auf 450 Seiten breitgewalzt wird. Das ist aber eine Spezialität dieses Autors, er heißt Hans Bach und hat mit „Sternendroge Tyrsoleen“ und „Germelshausen, 0.00 Uhr“ noch zwei andere sehr bemerkenswerte SF-Bücher verfasst. Das vorliegende Buch heißt „Die Glastropfenmaschine“, und da bin ich gleich auf Seite 61 über ein paar bemerkenswerte Sätze gestolpert, die die jugendliche Hauptfigur in Anbetracht der Bedrohung durch die ihm da noch unbekannte Macht, deren Waffe er durch einen Zufall in seinen Besitz gebracht hat, ohne es zu wissen, sagt:

Ich denke, wenn sie kommen und uns ihr böses Denken lehren, werden die Menschen handeln wie sie. Man redet von Gefühlen, besitzt sie aber nicht mehr. Man schachert mit Ideen, mit Ruhm. Wir werden dann alles gegen Geld eintauschen, was wir heute nur für Freundschaft oder Liebe geben. Was wird dann noch von uns bleiben? Nichts haben wir dann unseren Maschinen voraus. Vielleicht werden wir dann überhaupt nicht mehr gebraucht?“

Ich kann mich nicht erinnern, ob diese Textstelle vor vielen Jahren, als ich das Buch zum ersten Mal las, mir auch so aufgefallen wäre, aber heute stach sie mir besonders ins Auge.
Selten habe ich so prophetische Worte, mit einer solchen Klarheit Zustände von heute beschreibende dreißig Jahre alte Sätze gelesen. Der Zufall will es nämlich, dass ich vor wenigen Tagen erst einen Disput mit einem Foristen im „Standard“ hatte, der meinen Einwand, wie Familienverbände früher Probleme gemeistert haben während heute alle nach dem Staat plärren, mit der typisch linken Überheblichkeit als „gestriges Denken“ vom Tisch putzte. Ich wagte nämlich zu erwähnen, dass Kinderbetreuung früher besser funktioniert hat, weil die Oma auf die Enkel schaute, statt wie heute im Pflegeheim zu sitzen während die Kinder in der Betreuungsstelle abgeliefert werden.

„Was, wenn die Oma keine Lust hat, auf die Enkel zu sehen?“ kam da als Antwort. Nun, meine Meinung: es geht nicht um Lust. Genau das ist das falsche Denken. Es geht um Liebe und Freundschaft. Eine Familie tut was sie tut, weil sie sich lieben und Verantwortung füreinander übernehmen, auch dann, wenn sie mal keine Lust dazu haben. Sie unterstützen sich, sie helfen sich. Heute fragt auch keiner, ob die Oma Lust hat, in einen Pflegekomplex abgeschoben zu werden, der sich euphemistisch „Seniorenresidenz Sonnenschein“ nennt, weil „Sterbebunker Marmorstein“ doch Leute verschrecken könnte.

Wir werden dann alles gegen Geld eintauschen, was wir heute nur für Freundschaft oder Liebe geben.“

Genau. Wir bekommen von „denen mit dem bösen Denken“ den Egoismus eingebläut. Er wird als Keil in die Familie getrieben. Wir lieben unsere Großeltern nicht mehr, denn sonst würden wir uns um sie kümmern und sie nicht einfach in ein Heim stecken, wo sie gegen Geld betreut und, wenn der Zeitpunkt da ist, entsorgt werden. Wir lieben unsere Kinder nicht mehr, sonst würden wir versuchen, eine Familie mit Arbeitsteilung so zu organisieren, dass Arbeit und Betreuung unter ein Dach finden anstatt sie gegen Geld bei einer Nachmittagsbetreuung unterzubringen. Wir würden die „lästige“ Oma auch ertragen, weil sie auf die „lästigen“ Kinder schauen kann, wenn wir arbeiten gehen müssen oder auch nur mal eine Stunde wieder als Liebespaar erleben möchten. Wir lassen sogar den Keil in das Liebespaar treiben, denn es zählt keine Liebe mehr, sondern nur das Geld. Warum bekommt die Frau, wenn sie den Haushalt macht, kein Geld? - wird da getrötet und gehetzt. Was ja falsch ist, denn sie bekommt es ja – vom Mann, der derweil arbeiten geht und sein Geld auf das Familienkonto fließen lässt, von dem die Frau den gesamten Konsum bezahlt. Ja, pauken die Hetzer dann weiter, aber es ist eben das Geld des Mannes, um das die Frau da betteln muss – auch falsch, Lüge, Hetze, denn es ist das Geld der Familie, das erarbeitet wird und der Familie gehört, über das die Familie verfügt. Menschen, die sich lieben, teilen, was sie haben. Aber die Liebe und die Freundschaft zählen nicht mehr, denn wir haben das Denken „derer“ übernommen, die als böse destruktive Macht in der Geschichte die Menschheit zu versklaven suchen.
Putzig am Rande ist ja, dass es die gleichen Leute sind, die die Kollektivbildung der Familie aus Liebe und Verständnis als Teufelswerk bekämpfen, die die Kollektivbildung sonst als Nonplusultra beklatschen. Alle Menschen sollen Brüder werden, nur die eigenen Brüder soll man nicht als solche behandeln. Erkenne den Fehler.

Aber wer sind „die“? Wer sind diese offensichtlichen Feinde der Liebe und Freundschaft, die alle unter die Herrschaft des Geldes pressen, alles in Geldwert umrechnen und über die Geldverteilung die Macht über den Einzelnen haben wollen?
Denken wir mal nach…
Wer hat die Altenbetreuung gefördert und gefordert und den frei herumziehenden Arbeiter, losgelöst von den Fesseln des Eigentums und der Familienbande, propagiert?
Wer fordert die Ganztageskinderbetreuung ab dem ersten Lebensjahr?
Wer fordert die volle Berufstätigkeit beider Elternteile, damit alle in den Tretmühlen der Wirtschaft die Mittel erarbeiten, die sofort vom Staat eingezogen und für die outgesourcete Alten- und Kinderbetreuung ausgegeben wird?
Wer bezeichnet die Mann-Frau-Beziehung permanent als Unterdrückungsinstrument, als zu zerschlagendes Instrument des Patriarchats, das man nur in Geldwert umrechnen muss, um es auseinanderdividieren zu können?
Wer rechnet immer alles in Geld um, die Hausarbeit, die Kinderbetreuung, die Altenpflege, immer geht es um Geld, Geld Geld…?
Neoliberale Wirtschaftsbonzen? Das internationale Großkapital?
Oder sind das nicht die Parolen der sich als Progressive bezeichnenden Sozialisten?
Sind es nicht genau jene, die anderen Gewinnstreben vorwerfen, die aus reiner Unkenntnis von Dingen wie Empathie oder Liebe oder Freundschaft handeln? Die, für die Freundschaft ein Geschäft bedeutet, bei dem man Freunde in Versorgungsposten installiert, wo sie auch mal Dankbarkeitsdienste erbringen können und nicht ein Gefühl der Zuneigung, das einen selbst dazu bringt, auf etwas zu verzichten, um diesem Freund zu helfen? Sind es nicht genau jene, die sich mit dem Wort „Freundschaft!“ begrüßen, ihm aber keinen Bruchteil an Inhalt geben in ihrem Intrigantenstadel, ihn jeglichen Sinnes entkleidet haben?

Die sich selbst als progressive Weltverbesserer begreifenden und als linksintellektuelle Elite verstehenden Wurzelresektierten haben immer das gleiche Vorgehen: Sie nehmen ein altes, aber wertvolles Haus, bewerfen es mit Dreck, beschmieren es mit Parolen, schlagen Löcher in seine Wände und zeigen die Bilder dann triumphierend herum, damit jeder sehe, wie alt und löchrig und schäbig doch das Vergangene wäre; sie fordern dessen Abriss und schreiten auch sofort zur Tat, hetzen alle auf, mitzuschlagen, und reißen das alte Gebäude ein. Aus dessen Trümmern, so ihre immer und immer wiederholte Lügenparole, würde dann das Neue, Schöne, Erhabene entstehen, das die Zukunft prägt. Aber da ist nichts, denn sie bauen nichts, sie weben nur aus Propagandawortgirlanden und Lügenbandwurmsätzen eine löchrige Plane und spannen ein Zelt aus Ideologie und Trugbildern. Eine Zeit lang, wenn es warm und trocken ist, wenn die Leute die Lüge nicht bemerken weil sie glauben, nicht von Steinmauern eingeengt lebe es sich doch viel besser, funktioniert dieses Lügengebäude. Aber wenn es kalt wird, wenn der Regen kommt, dann kommt das Erwachen. Früher war eben nicht alles schlechter, wie die Progressiven behaupten, es war auch nicht alles besser, wie die Romantiker behaupten, aber es war funktionierender. Und einen Schritt zurückzugehen, wenn man merkt, dass man eine falsche Richtung eingeschlagen hat, ist kein Rückschritt sondern eine Fehlerkorrektur; blind auf einem falschen Pfad weiterzugehen, weil man sich nicht zur Korrektur überwinden kann, ist Dummheit. Dass sich solche dummen Menschen oft selbst als intellektuell empfinden, ist da nur noch ein Treppenwitz der Geschichte.

Und dann toben diese Geiferer sofort los, ich wäre ein „Linkenhasser“, müsse also ein „Rechtsrechter“ sein. Ist mir ja ehrlich gesagt egal, weil was die von mir denken ist vollkommen bedeutungslos für mich. Aber eines begreifen sie, selbst von Hass geleitet, nie: Ich hasse sie nicht. Ich habe sie nur durchschaut. Das reicht, um jede Achtung vor ihnen zu verlieren.

Unter ihrer Maske der Solidarität und Toleranz, des Friedens und der Liebe sitzt nämlich nur eine hässliche Fratze aus Hochmut, Gier, Hass und Verachtung. Dort wurde die dünne Tuchent der Zivilisation und Menschenliebe zerrissen, das Biest darunter ist das Gleiche, das von allen Herrenmenschenideologien gestreichelt und zum Schoßkätzchen gemacht wird. Der willfährige Blockwart von Kommunisten, Faschisten, Nationalisten, Islamisten, einfach allen Kollektivisten, die dem Individuum versprechen, das Aufgehen in einem Kollektiv von Herrenmenschen würde es selbst zu einem Herrenmenschen machen.
Wenn solche Gestalten mich beschimpfen, dann weiß ich, dass ich irgendwas richtig gemacht haben muss. Und wenn die mich als Faschisten beschimpfen, dann weiß ich auch, dass die selbst zu dumm sind, um zu begreifen, wem sie gerade die Straße pflastern und welches Gedankengut sie pflegen.
Nein, ich hasse sie nicht.
Aber ich lache sie aus, wo immer ich ihnen begegne.

2 Kommentare:

Heinz hat gesagt…

Sehe ich auch genau so.
Was früher in der Familie geleistet wurde, soll und macht heute der Staat, und zwar für alle, egal.
Damit wird der Familie der Wert entzogen, man braucht sie nicht mehr, ein schwerer Fehler.

Anonym hat gesagt…

Werter Fragolin,

brilliant! Ich wünschte, ich könnte so schreiben.

Mit ehrlichem Gruß,
Tomj